Ich spüre eine große Angst um die Existenz
People Are Fearful for Their Livelihoods
Transcript in German: Dirk Sauerborn,
April 14 2020
Mutual support in the neighborhood in times of crisis: Dirk Sauerborn shares his experience as contact officer in Düsseldorfs neighborhoods. He describes the fears of the people in the districts due to the current crisis and makes clear how important it is to have a stable and solidarity-based neighborhood that is characterized by mutual support. This is the only way to manage the crisis and mitigate its consequences.
Gegenseitige Unterstützung in der Nachbarschaft zu Zeiten der Krise: Dirk Sauerborn berichtet von seinen Erfahrungen in Düsseldorfer Quartieren als Kontaktbeamter. Er beschreibt die Ängste der Menschen in den Stadtteilen aufgrund der aktuellen Krise. Sauerborn macht deutlich, wie wichtig es ist, eine stabile und solidarische Nachbarschaft zu haben, die durch gegenseitige Unterstützung geprägt ist. Nur so kann die Krise bewältigt und deren Folgen abgemildert werden.
Wie erleben Sie – zu Zeiten der sozialen Distanzierung – die aktuelle Situation in verschiedenen Quartieren in Düsseldorf?
Die Straßen sind leer und man sieht sehr wenige Menschen. Spontane Treffen und geplante Veranstaltungen finden nicht statt. Die Einzelhandelsgeschäfte sind zu bestimmten Zeiten voll, aber die Gaststätten und Restaurants sind gleichzeitig sehr leer. Ich habe mit einigen Leuten gesprochen und es existiert eine große Sorge bei den Menschen, dass sie in den finanziellen Ruin gehen. Ich spüre eine große Angst um die Existenz. Ich glaube, je länger die Maßnahmen andauern, desto größer ist auch die existenzielle Furcht. Es kann passieren, dass gerade die kleineren Einzelhandelsunternehmen gar nicht mehr antreten können, wenn die Maßnahmen gelockert werden. Auch Familien haben Probleme in der aktuellen Situation. Ich habe mit jemandem gesprochen, der in einem Sieben-Personen Haushalt lebt: eine 80-qm-Wohnung mit fünf Kindern zwischen fünf und achtzehn Jahren. Das ist meiner Meinung nach eine explosive Mischung, die völlig konträr zu der absoluten Ruhe im Quartier wirkt. Darüber hinaus ist es nicht auszuschließen, dass wir mehr Einsätze im Bereich der häuslichen Gewalt haben. Darauf muss man sich vorbereiten.
Wie der oder die Einzelne mit der Krise umgehen kann, hängt also auch sehr stark von den Einkommensverhältnissen und dem Lebensstandard ab.
Dirk Sauerborn 04/2020
Sehen Sie Unterschiede innerhalb der Quartiere in Bezug auf die Möglichkeiten, die die Menschen dort haben, mit der Krise umzugehen?
In den Quartieren geht es meiner Wahrnehmung nach sehr unterschiedlich zu. Es gibt Stadtteile, da gibt es großzügige Wohnungen und da hat jedes Kind ein eigenes Zimmer. Dort gibt es Vorgärten, Gärten, wo sich die Kinder aufhalten und austoben können. Genauso gibt es Stadtteile, die dichter und enger sind und die Möglichkeiten entsprechend begrenzt. Wie der oder die Einzelne mit der Krise umgehen kann, hängt also auch sehr stark von den Einkommensverhältnissen und dem Lebensstandard ab.
Das, was Menschen ganz dringend brauchen in einer solchen Krise – das ist ja gerade verboten –, dass man jemanden einfach mal umarmt und eben ein Stück weit auch körperliche Nähe zeigt.
Dirk Sauerborn 04/2020
Haben Sie einen Einblick, welche Anlaufstellen es trotz der Distanzierung gibt? Erste Anlaufstellen im Nahumfeld, um ein bisschen Luft zu schnappen und einen Austausch zu haben?
Es gibt nicht mehr die klassischen Anlaufstellen, zu denen man hingehen und sich in die Obhut von Sozialpädagog*innen oder Sozialarbeiter*innen begeben kann. Das geht, wenn überhaupt, nur sehr distanziert über Social Media, Facebook oder Telefon. Die Menschen sind es gewohnt, im persönlichen Austausch miteinander zu arbeiten, zu den Ansprechpartner*innen direkt hinzugehen und mit ihnen zu sprechen. Sie sind es gewohnt, Auge in Auge zu versuchen Probleme zu bewältigen oder zunächst einmal die Probleme rauszulassen und zu sagen: „Ja, da habe ich große Sorgen.“ Das ist das Problem aktuell, dass die Leute viel mehr auf sich alleine gestellt sind. Es ist äußerst schwierig an das zu kommen, was hinter den geschlossenen Türen passiert. Das, was Menschen ganz dringend brauchen in einer solchen Krise – das ist ja gerade verboten –, dass man jemanden einfach mal umarmt und eben ein Stück weit auch körperliche Nähe zeigt. Ich habe in Telefongesprächen sowohl mit Älteren als auch Jüngeren mitbekommen, dass ihnen der Kontakt fehlt.
Welche Zielgruppen sehen Sie momentan besonders belastet?
Ich glaube, dass besonders Kinder von der aktuellen Situation betroffen sind. Kinder, die in prekären Situationen leben, die unter einer räumlichen Enge leiden, die auch Aggressionen und Frustrationen ansammeln, wo es momentan ja äußerst schwierig ist diese rauszulassen. Kinder und Jugendliche, die nicht auf den Bolzplatz oder ins Fitnessstudio gehen können, um die Aggressionen rauszulassen. Man muss auf Jugendliche schauen, die in schwierigen Situationen sind. Es gibt ganz viele Senior*innen, die sehr abgeschottet sind und kaum noch soziale Kontakte haben. Ich glaube, auch da muss man genauer hinschauen, welche psychologischen Probleme da auftauchen. Auch bei Künstler*innen oder anderen freischaffenden Berufen, Menschen, die nicht „systemrelevant sind“, spüre ich eine riesige Angst und auch teilweise Verzweiflung. Deshalb ist auch wichtig, dass man den Menschen Perspektiven anbietet und diese sich äußern können. Das sehe ich mit Sorgen, dass man da die Meinungsvielfalt momentan fast schon immanent einschränkt.
Ich hoffe auch, dass der Virus nicht die Solidarität zerstört.
Dirk Sauerborn 04/2020
Was glauben Sie, welche Rolle das Wohnumfeld, dieses Nahumfeld oder auch das Quartier spielt, wenn es jetzt wieder mehr Möglichkeiten gibt?
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Akteure, die hier oft unterwegs waren und viel angeboten haben, dies auch wieder tun. Da habe ich große Sorge, dass Wohlfahrtsverbände, dass Vereine, die mit viel Ehrenamt und teilweise auch mit hauptamtlichen Treffen gearbeitet haben, bis dahin die Luft ausgegangen ist. Ich finde ganz wichtig, dass die Menschen nach einer Lockerung spüren, dass es Menschen gibt, die für sie da sind. Darauf müssen die Politik, die Regierung, die kommunalen Verwaltungen in der Stadt achten, dass diese Angebote nach der Lockerung auch aktiv wieder angeboten werden. Eigentlich müssten sie noch mehr anbieten, um die Wirkungen, die die Maßnahmen hatten, auch tatsächlich auffangen zu können. Trotzdem, wie gesagt, ich habe Sorge, dass diese Anbieter dann wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sind, etwas zu unternehmen.
Ich hoffe auch, dass das Virus nicht die Solidarität zerstört. Solidarität ist nach wie vor da, aber ich glaube sehr stark vermindert, weil es den persönlichen Kontakt nicht gibt. Es gibt nachbarschaftliche Hilfen, zum Beispiel Hilfsbeutel in manchen Quartieren, die auch entgegengenommen werden. Das ist aber in meinen Augen nur der Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen zusehen, dass die Solidarität nicht übertüncht wird von der Angst und der Sorge, dass der andere, mit dem ich spreche unter Umständen krank ist, das Virus in sich trägt, also potenziell gefährlich ist. Dieser Argwohn, der könnte die Solidarität massiv angreifen, wenn nicht sogar vernichten. Wir müssen darauf achten, weiterhin auf andere Menschen zuzugehen, als Menschen und nicht als Stufe zwischen systemrelevant und nicht systemrelevant.
Vielen Dank. Ja, es werden fundamentale Fragen an unser Zusammenleben gestellt. Wir müssen aufpassen, dass nicht die Quartiere, die am stärksten getroffen sind, auch die sind, die es am schwierigsten haben, sich zu erholen.
Dirk Sauerborn wurde mit knapp 17 Jahren Polizist. Nach seinem Studium zum Polizeikommissar arbeitet er seit acht Jahren im Polizeipräsidium Düsseldorf als Kontaktbeamter für Menschen mit Migrationshintergrund. Er ist seit 2018 Mitglied des Beirats der Landesregierung NRW für Teilhabe und Integration. Zuletzt wurde Sauerborn mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet.