Published December 4th, 2023

Angst.Ekel.Scheitern. Ein Austausch zu den blinden Flecken der Nachhaltigkeit

Fear.Disgust.Fail. An Exchange on the Blind Spots of Sustainability

Open-Access-Publikation zum gleichnamigen Symposium (Urbanophil Verlag, Berlin)

Wer handelt wirklich nachhaltig? Wir labeln, lügen und scheitern. In Angst.Ekel.Scheitern. stechen die Autor:innen in die blinden Flecken der Nachhaltigkeit. Ob in der Architektur und Stadtentwicklung, in der Kunst- und Filmbranche und im Transformationsdesign, der Informatik, Soziologie und Philosophie, in der Praxis des Materialverwaltens und im zivilen Ungehorsam – überall gibt es Hürden und Hemmnisse, Lücken und Abhängigkeiten auf dem Weg in die Nachhaltigkeit.

Who really acts sustainably? We label, lie and fail. In Fear.Disgust.Fail. the authors delve into the blind spots of sustainability. Whether in architecture and urban development, the art and film industry, in transformation design and computer science, sociology and philosophy, in the practice of material management or in civil disobedience – there are hurdles and obstacles, gaps and dependencies on the path to sustainability everywhere.

Einband der Publikation Angst.Ekel.Scheitern. Design von Levin Stadler, https://levinstadler.de

Nahezu inflationär werden mittlerweile sämtliche Produkte, Bereiche und Maßnahmen mit dem Begriff Nachhaltigkeit gelabelt. Damit sind viele Versprechungen verbunden und wir fühlen uns gut, wenn wir nachhaltig konsumieren. Mitunter belügen wir uns in dieser Hinsicht oder wir werden belogen. Wir als Gesellschaft und als Einzelne:r handeln nicht immer konsequent nachhaltig, sondern auch egoistisch, widersprüchlich, kurzsichtig oder wir ignorieren komplexe Zusammenhänge. Und mal ehrlich, wer verzichtet schon gerne?

Gönnen wir uns noch ein paar Jahre der Verdrängung oder stehen wir jetzt mit Vehemenz und Ernsthaftigkeit für unser Recht auf Leben ein? Auf welcher Seite der Geschichte möchtest Du stehen?

Nana-Maria Grüning (Scientist Rebellion) 10/2023

Weil die dunklen Seiten im Nachhaltigkeitskontext selten offen thematisiert werden, gaben wir im Mai 2023 drei Tage lang dem Scheitern und den Illusionen, den Krisen und Ängsten im Hamburger Oberhafen eine Bühne. Auf unserem Symposium stellten wir den hellen Versprechungen die blinden Flecken der Nachhaltigkeit zur Seite. Sieben Panels strukturierten die Veranstaltung: Scheitern, Angst & Hedonismus, Not in my backyard, Krisen, Illusionen, Ekel & Verfall sowie Abhängigkeit. Personen aus der Wissenschaft, der (künstlerischen) Praxis und der Zivilgesellschaft legten sie gemeinsam offen. Neben Vorträgen, Diskussionen, Quartiersspaziergängen und Kunstwerken zu den blinden Flecken der Nachhaltigkeit waren Vortragende und Besucher:innen drei Tage lang eingeladen, in der „Hall of Shame” die eigenen Nachhaltigkeitssünden anonym zu beichten, niederzuschreiben und zu zeichnen. Die „H|Wall of Shame“ – einen modernen Beichtstuhl – konzipierten und bauten Uli Bildstein und ich aus alten Paketen einzig für das Symposium. Am letzten Veranstaltungsabend öffneten wir die „Hall” zur „Wall” und machten damit auch die Sünden für alle Anwesenden sichtbar.

Diese Publikation bildet alle (etwa 30) Beiträge ab, so werden u.a. aus der Architektur und Stadtentwicklung, der Kunst und der Filmbranche, des Transformationsdesigns und der Informatik, der Soziologie und Philosophie, der Praxis des Material-Verwaltens und des zivilen Ungehorsams Hürden und Hemmnisse, Lücken und Abhängigkeiten im Nachhaltigkeitskontext beschrieben, gezeichnet und besprochen. Auf der Veranstaltung bildeten sich neue Verknüpfungen im Kontext nachhaltigen Handelns ab: Emotionen, Zumutungen, Beziehungen, Kreisläufe, Entschlossenheit und Wissen teilen bzw. nicht zu wissen.  

Die Evolution findet außerhalb der gängigen Komfortzonen statt.

Alexandra Schmitz (asdfg Architekten) 10/2023

Wir können unser Wohlstandsleben nicht weiterführen wie bisher. Seine schmutzigen Folgen schädigen und verhindern das Leben anderer. Die Konsequenzen konnten wir bislang erfolgreich ausblenden – mit Hilfe von Verdrängung und Selbstbetrug, schreibt Nana-Maria Grüning von Scientist Rebellion in ihrem Beitrag über „Die größte Krise der Menschheitsgeschichte“. Die Mensch-Natur-Beziehungen seien aus dem Gleichgewicht geraten, und es gelte nun diese durch eine Mischung aus Ritualen und Experimenten, Wiederholung und Neuerung wieder zu beleben – das diskutiert Norman Sieroka aus der philosophischen Sicht zusammen mit Monique Jüttner und Edda Ostertag aus der Perspektive der Architektur und Landschaftsarchitektur. Kreisläufe beschäftigen auch andere Architekt:innen in unserem Buch: So erörtert Stefan Rettich in seinem Artikel “Strahlende Zukunft“, wie mit den Hinterlassenschaften der Atomkraftwerke umzugehen sei. Lukasz Lendzinski vom Kunst- und Architekturkollektiv Umschichten thematisiert das Verlassen der Komfortzone, insbesondere wenn im weitgehend offenen Prozess und im Pre-Cycling-Prinzip temporäre Architektur- und Kunstobjekte im Stadtraum entstehen. Im Beitrag des Soziologen Gunter Weidenhaus erfahren wir am Beispiel energetischer Sanierungen, wie aufgrund rechtlicher Lücken im Namen des Klimaschutzes Mieterhöhungen erwirkt werden. Und in einer spannenden Diskussion decken die Produzentinnen Rike Steyer und Andrea Schütte mit der Schauspielerin Pheline Roggan und dem Szenenbildner Josef Brandl weitere Lücken in der Filmbranche auf. Dort ist die ökologische Nachhaltigkeit mittlerweile über Mindeststandards im Filmfördergesetz festgelegt, aber die sozialen Aspekte der Nachhaltigkeit werden weitgehend ignoriert. Und wie nachhaltig ist eigentlich unser Wissenschaftssystem? In „Publish or perish“ prangert die Kognitionswissenschaftlerin Imke Franzmeier Ausbeutung in der Wissenschaft an. Viele Ressourcen gingen verloren, zum Beispiel Ideen in langwierigen Antragsstellungen oder Wissen im Publikationsdruck – dies zusammen mit den prekären Arbeitsbedingungen lasse schließlich die Motivation und damit das wissenschaftliche Personal selbst verschwinden.

Angst vor Veränderung und davor und auf das verzichten zu müssen, was das Leben lebenswert mache, lähme nach dem Philosophen Sebastian Weiner nachhaltiges Handeln – den Zusammenhängen hierzu geht er in seinem Beitrag theoretisch nach. In der (Planungs-)Praxis bedeute das konkret: „Parkplatzdiskussionen sind sehr emotional”, berichtet der Architekt Urs Kumberger des Berliner Städtebaubüros teleinternetcafe im Gespräch. Der Beitrag „Von der Schönheit des Schimmels und der Leere danach“ von Monika Isler Binz und Anja Runkel fokussiert den Ekel und diskutiert die Dialektik vom Entstehen und Vergehen in der Architektur: Schimmelbefall gefährdet die Gesundheit und die Bausubstanz, weshalb seine Beseitigung das sterile und pragmatische Ziel ist. Andererseits kann Schimmel eine spezielle Ästhetik entfalten, wie die Fotografie einer von Schimmel befallen Wand des Filmemachers und Fotografen Rainer Binz veranschaulicht. Diese und viele anderen Beiträge zu den blinden oder auch dunklen Flecken der Nachhaltigkeit warten darauf, gelesen und diskutiert zu werden.

Ein ideenreiches, künstlerisches Buch mit vielen Überraschungen und unkonventionellen Gedankenverknüpfungen. Mutig.Arty.Nachhaltig.

Verena Pfeiffer-Kloss (Urbanophil Verlag) 10/2023

Die E-Publikation, herausgegeben von Yvonne Siegmund, Ulrich Bildstein und Ina Jessen, steht auf unserer Website https://angstekelscheitern.de/e-book/ und bei Urbanophil https://urbanophil.net/verlag/angst-ekel-scheitern-austausch-zu-den-blinden-flecken-der-nachhaltigkeit/ zum Download zur Verfügung.

Beitrag links „Hedonismus vs. Nachhaltigkeit“ von Hanna Mauksch, Projektleiterin von „Zukunft Feiern!“. Rechter Beitrag “Nachhaltigkeit als Bedrohung“ des Philosophen Sebastian Weiner. Source: Hanna Mauksch, Sebastian Weiner für Angst.Ekel.Scheitern.
Zusammenfassung des Kapitels „Krisen“ von der Kunsthistorikerin und Interior Designerin Virginia Schmitz.
Source: Virginia Schmitz für Angst.Ekel.Scheitern.
Schimmel No. 5, Fotografie digital als Fine-Art-Inkjet (225 x 150cm), 2021.
Source: Foto von Rainer Binz für Angst.Ekel.Scheitern.
In der H|Wall of Shame konnten Symposiums-Besucher:innen ihre Nachhaltigkeitssünden beichten.
Source: Konzept und Umsetzung von Uli Bildstein und Yvonne Siegmund, Foto von Josef Brandl für Angst.Ekel.Scheitern.

References

Grüning, Nana-Maria (2023): Die größte Krise der Menschheitsgeschichte. In: Angst.Ekel.Scheitern. Ein Austausch zu den blinden Flecken der Nachhaltigkeit. Urbanophil Verlag: Berlin. https://t1p.de/s4iy8: S. 72 – 74.

Pfeiffer-Kloss, Verena (2023): https://t1p.de/s4iy8.

Schmitz, Alexandra (2023): Schöpfung – Zerstörung. Evolution statt Tabula Rasa in der Architektur. In: Angst.Ekel.Scheitern. Ein Austausch zu den blinden Flecken der Nachhaltigkeit. Urbanophil Verlag: Berlin. https://t1p.de/s4iy8: S. 152 – 158.

Siegmund, Yvonne, Jessen, Ina und Bildstein Ulrich, Hg. (2023): Angst.Ekel.Scheitern. Ein Austausch zu den blinden Flecken der Nachhaltigkeit. Urbanophil Verlag: Berlin. https://t1p.de/s4iy8.

Yvonne Siegmund ist in Wissenschaft und Praxis, in den Bereichen Architektur, Städtebau und Stadtforschung aktiv. In ihrer Doktorarbeit dechiffrierte sie mit Hilfe der Zeitlichkeit prozessuale und sozialräumliche Abhängigkeiten in Quartiersentwicklungen. Sie erforscht die Grenzen von Planung und Planbarkeit und insbesondere den Umgang mit Unsicherheit und Mehrdeutigkeit in der Stadtentwicklung. https://heyvisiona.com